Apokalypse und Antichrist – die Chorfenster von St. Marien Frankfurt (Oder)

Apokalypse und Antichrist – die Chorfenster von St. Marien Frankfurt (Oder)

Die St.-Marien-Kirche Frankfurt (Oder) zählt nicht ohne Grund zu den größten Hallenkirchen norddeutscher Backsteingotik: Von außen präsentiert sie sich dem Besucher als beeindruckender, riesiger Backsteinbau. Beim Betreten des Innenraumes ist jedoch so mancher Gast überrascht, ein leeres Kirchenschiff vorzufinden. Das war vor dem Zweiten Weltkrieg noch anders: Die Kunstschätze – der goldgekrönte Hochaltar (1489), das 4,70 Meter große Bronzetaufbecken, der siebenflammige Leuchter (beide um 1376) und die Glasmalereien der drei Chorhauptfenster mit biblischen Szenen und der Lebensgeschichte des Antichrist (um 1360) – schmückten den Raum ebenso wie Gestühle, Kanzel und Orgel. Letztere sind im April 1945 verbrannt, Altar, Taufe und Leuchter haben heute ihr Domizil bei der evangelischen Kirchengemeinde in der Kirche St. Gertraud gefunden.

Dass die wertvollen Chorfenster noch existieren, ist zunächst einmal auf den Erlass über den Luftschutz von Kulturgütern (1940) des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung zurückzuführen. Im Spätsommer 1941 wurden sie von einer Frankfurter Glaserei ausgebaut, zerlegt, nummeriert und in Holzkisten verpackt. Nach der zwischenzeitlichen Lagerung in einer Gruft der Kirche und dem Keller des Pfarrhauses brachte man die Kisten schließlich zum Schutz vor Zerstörung 1945 ins Neue Palais nach Potsdam Sanssouci. Kurz nach Kriegsende von sogenannten sowjetischen Kunstschutzoffizieren entdeckt, verließen die Frankfurter Glasmalereien Mitte August 1946 mit dem Militär-Sonderzug 176/8042 Deutschland in Richtung Osten. Danach verlor sich ihre Spur.

Nachforschungen der Kirchengemeinde und des Denkmalamtes nach dem Verbleib der Chorfenster wurden zu DDR-Zeiten sofort im Keim erstickt. Erst 1991, also 45 Jahre später, sickerte die Information durch, dass die Fensterfelder noch existieren: im Sonderdepot der Eremitage, im heutigen St. Petersburg. Es sollten noch mehr als zehn Jahre mit unzähligen Verhandlungen auf höchster politischer Ebene vergehen, bis das russische Parlament am 5. April 2002 der Rückführung der Frankfurter Bilderbibel zustimmte. Damit waren diese Glasmalereien die ersten Kunstwerke überhaupt, die nach Inkrafttreten des sogenannten Beutekunst-Gesetzes von Russland zurückgegeben wurden. Dies war auch nur möglich, weil es sich um kirchliches Eigentum handelt.

Am 29. Juni 2002 erreichten die Chorfenster schließlich in einem Spezialtransporter Frankfurt (Oder). Die 22 Kisten wurden unter großer Anteilnahme der Bevölkerung von Politikern und Medien vor der Marienkirche in Empfang genommen. Sechs fehlende Scheiben wurden drei Jahre später im Moskauer Puschkin-Museum ausfindig gemacht und 2008 zurückgegeben.

Es folgten sieben Jahre, in denen die insgesamt 117 farbigen Scheiben, von denen eine jeweils 47 Zentimeter breit und 84 Zentimeter hoch ist, aufwendig restauriert und wieder eingebaut wurden. Zu diesem Zweck wurde der im Krieg zerstörte Chorraum wiederhergestellt und erhielt seine mittelalterliche Farbfassung zurück. Nach einem modernen Entwurf von Hans Burger entstanden auch die sieben Nachbarfenster neu, um eine angemessene Umrahmung für die drei Hauptfenster zu schaffen. Heute gehört der gläserne Schatz von St. Marien zu den Hauptattraktionen der Stadt.

Aber was macht diese Bleiglasfenster so besonders? Vergleichbare Bestände an mittelalterlichen Glasmalereien sind äußerst selten, das Antichristfenster gilt sogar als einzigartig.

Vor 600 Jahren erfüllten die farbenprächtigen Bleiglasfenster für die zumeist des Lesens unkundigen Kirchgänger des Mittelalters die Funktion einer Art Bilderbibel: Das linke Fenster (Genesisfenster) zeigt Szenen aus dem alttestamentlichen Schöpfungszyklus. In der Mittelbahn des zentralen Fensters (Christusfenster) wird der Lebensweg von Jesus dargestellt. Das rechte Chorhauptfenster hat das Leben und Wirken des Antichrist zum Thema. Entsprechend der mittelalterlichen Glaubensvorstellung waren die strahlenden Glasmalereien zudem ein Symbol für die kristallene Stadt Gottes – das „himmlische Jerusalem“ aus der Offenbarung des Neuen Testaments.

Etliche Fensterfelder erweisen sich bei näherer Betrachtung als besonders: In den Zyklus des Schöpfungsfensters beispielsweise wurden seltene außerbiblische Motive wie die Bekleidung von Adam und Eva nach dem Sündenfall aufgenommen. Hier finden sich zudem Fragmente aus nicht mehr existierenden Fenstern der Marienkirche wieder, die durch ihre unterschiedlichen Proportionen auffallen.

Im Fokus der Wissenschaft steht vor allem das Antichristfenster. Der Überlieferung nach erscheint der falsche Messias als Vorbote des nahenden Weltuntergangs in Menschengestalt auf der Erde. Der Antichrist versucht mit Lügen und falschen Wundern die Menschen vom rechten Glauben abzubringen und die Weltherrschaft zu übernehmen. Äußerlich ist er an dem T auf seiner Stirn erkennbar, einem Symbol, das auch seine Anhänger tragen.

Rätsel geben die Motive „Wartende Juden am Fluss“ und „Antichrist bei den Juden am Fluss“ auf, denn hier sind einige Juden rot oder rötlich gefärbt und können mit der Volkslegende der „roten Juden“ in Verbindung gebracht werden. Die Legende aus dem deutschsprachigen Raum besagt, dass es sich bei den „roten Juden“ um ein Fantasievolk handelt, das dem Antichrist in der Endzeit als Diener zur Seite steht. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die Juden auf diesen beiden Motivfeldern nicht das T-Symbol tragen, das die Gefolgschaft des Antichrist kennzeichnet.

Geschaffen wurden die Chorfenster in einer Zeit der Pestepidemien, Missernten und politisch-kirchlichen Machtkämpfe. Und so ist es kaum verwunderlich, dass sich im Antichristfenster die Angst vor dem Weltuntergang genauso widerspiegelt wie die Frömmigkeit, in der die damaligen Menschen im krisenhaften 14. Jahrhundert Halt suchten.

An Aktualität haben die Entstehungsumstände und Motive der Chorfenster bis heute nicht verloren. In Zeiten der Corona-Pandemie geistert das Wort Weltuntergang nun wieder durch viele Köpfe und die sozialen Netzwerke. Die prächtige Bilderbibel sendet da eine tröstliche Botschaft: Frankfurt an der Oder hat bereits andere Krisen bewältigt und ist damals zu einer reichen Hansestadt aufgestiegen. Ob nun als Dank oder Zeichen des Wohlstandes – in diesen Jahrzehnten finanzierten einflussreiche Kaufmannsfamilien umfangreiche Baumaßnahmen an ihrer Stadtkirche sowie die Herstellung der Bleiglasfenster.

Und auch dem Antichrist gelingt es nicht, die Weltherrschaft an sich zu reißen, so zeigt es das Frankfurter Chorfenster: Der falsche Messias wird am Ende auf dem Ölberg vom Erzengel Michael mit einem großen Schwert erschlagen.

Text:
Henriette Brendler, Kulturbüro Frankfurt (Oder)

Bildinfo:
Drei Einzelmotive der Frankfurter Bilderbibel: die Verurteilung von Adam und Eva (links, Schöpfungsfenster), der Antichrist predigt im Tempel (Mitte) und wartende Juden am Fluss (rechts, beide aus dem Antichristfenster)

Weiterführende Literatur:
– Kulturbüro Frankfurt (Oder) [Hrsg.]: Frankfurter Bilderbibel. Die Glasmalereien von St. Marien. Verlag Schnell & Steiner. Regensburg 2022.
– Gow, Andrew Colin: Das Gefolge des Antichristen: Zur Legende von den „roten Juden“. In: Knefelkamp, Ulrich/Martin, Frank [Hrsg.]: Der Antichrist. Die Glasmalereien der Marienkirche in Frankfurt (Oder). Edition Leipzig. Leipzig 2008, S. 102–112.